Erzbischof Stanisław Gądecki
Wir vergeben und wir bitten um Vergebung. 50. Jahrestag des Verfassens des Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe (Rom, Campo Teutonico – 26.10.2015)
Am 50. Jahrestag des Verfassens des Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe versammeln wir uns zu einer Danksagung für dieses – was das polnisch-deutsche Verhältnis in der Nachkriegszeit betrifft – epochale Ereignis.
Dieses für die Nachkriegsgeschichte der Kirche in Polen und in Deutschland so wichtige Dokument enthielt die Worte, die den häufig zitierten und kommentierten Kern seiner Botschaft ausmachen: „Wir strecken unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Diese Worte wurden am Ende der Beratungen des II. Vatikanischen Konzils und mit Blick auf die damals bevorstehende Gedenkfeier der 1000-jährigen Taufe Polens ausgesprochen. In Erwartung dieses Millenniums richteten die auf dem Konzil anwesenden polnischen Bischöfe 56 Briefe an die verschiedenen Bischofskonferenzen, in denen sie über die bevorstehenden Feierlichkeiten informierten und um Gebet in dieser Intention baten.
Unter diesen Briefen gab es auch den Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965. „Im Jahre des Herrn 1966“, schrieben die Bischöfe, „wird die Kirche Christi in Polen und mit ihr zusammen das gesamte polnische Volk das Millennium seiner Taufe begehen“. Die Taufe ist aber – im persönlichen wie auch von der gesellschaftlichen Dimension her – ein Sakrament der Befreiung, das die Getauften in einer Gemeinschaft des Glaubens und der Brüderlichkeit vereint. Das authentische Christentum kann sich deshalb nicht damit abfinden, dass christliche Nachbarländer miteinander zerstritten sind.
Die große Weisheit der damaligen polnischen Bischöfe – unter Führung von Primas Kardinal Stefan Wyszyński und Kardinal Bolesław Kominek, dem großen Förderer der Versöhnung zwischen der polnischen und deutschen Nation – bestand darin, den Versuch zu unternehmen, die gegenseitige Geschichte unserer beiden Nationen aus der Millenniumsperspektive zu betrachten. Der Hirtenbrief wurde zur großen Synthese der polnischen Geschichte, mit besonderer Rücksicht auf unsere Beziehungen mit dem deutschen Nachbarn. Das Faktum, die Geschichte entlang der 1000-jährigen, christlichen Perspektive darzustellen, hatte eine große Bedeutung in der sogenannten Volksrepublik Polen, welche die Geschichte der Welt mit der Bolschewistischen Revolution beginnen ließ. Durch die Millenniumsperspektive wurde den Empfängern des Hirtenbriefes deutlich, dass der dauerhafte Wert, der unsere Nationen und unsere Länder über alle Gegensätze hin vereint, der gemeinsame christliche Glaube ist. Es war eine Vision geprägt von der Zugehörigkeit Polens zur großen Familie des christlichen Europas. Eine Vision, in der – jenseits der politischen Grenzen – eine wunderbare Gemeinschaft des Geistes existierte.
Der Brief war der Versuch einer moralischen Abrechnung, die unmöglich gewesen wäre, wenn man nicht die Vergangenheit berücksichtigt hätte, wenn man nicht das Schicksal der polnischen und deutschen Bevölkerung, sowohl während des Zweiten Weltkrieges wie auch danach, beachtet hätte. Der Brief war Teil eines Bestrebens, das der moralischen Erneuerung unserer Nation diente. Er war auch ein Akt des Mutes der polnischen Bischofskonferenz, die es unter den damaligen politischen Umständen wagte, eine Initiative im internationalen Rahmen zu unternehmen, ohne den Willen und das Wissen der Partei.
Die Bilanz der Geschichte vom christlichen Standpunkt her wurde zu einer Bilanz, die sich von einem lediglich legalistisch verstandenen Gerechtigkeitsdenken nicht errechnen lässt. Aus dieser Überzeugung entstand die spätere Reflexion von Karol Wojtyła, einem Mitunterzeichner des damaligen Hirtenbriefes: „Die Erfahrung der Vergangenheit und auch unserer Zeit lehrt, daß die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann, wenn nicht einer tieferen Kraft - der Liebe - die Möglichkeit geboten wird, das menschliche Leben in seinen verschiedenen Bereichen zu prägen. Gerade die geschichtliche Erfahrung hat, unter anderem, zur Formulierung der Aussage geführt: summum ius, summa iniuria - höchstes Recht, höchstes Unrecht. Diese Behauptung entwertet die Gerechtigkeit nicht, noch verringert sie die Bedeutung der Ordnung, die sich auf sie aufbaut; sie weist nur unter einem anderen Aspekt auf die Notwendigkeit hin, aus jenen noch tieferen Quellen des Geistes zu schöpfen, denen sich die Ordnung der Gerechtigkeit selber verdankt“ (Johannes Paul II., Dives in misericordia, 12).
Zwei Tage nach Erscheinen des Hirtenbriefes kam die deutsche Antwort in Form eines Grußes der deutschen Bischöfe an die polnischen Amtsbrüder und die Antwort zum Hirtenbrief vom 18. November 1965. Die distanzierte Antwort der deutschen Bischöfen – die zwar den Dank und die Bitte um Vergebung enthielt, sich gleichzeitig aber nicht mit den Territorialverlusten Deutschlands zugunsten Polens infolge des Zweiten Weltkrieges abfinden wollte – brachte nicht die erwartete Wende nicht, sondern löste bei den polnischen Bischöfe eine Enttäuschung aus: „Unsere so herzlich ausgestreckte Hand wurde nicht ohne Vorbehalte angenommen“ (schrieb später Primas Kardinal Stefan Wyszyński an Kardinal Julius Döpfner im Jahr 1970).
Der Hirtenbrief war ein wichtiger Beitrag dazu, den Antagonismus zwischen der polnischen und der deutschen Nation zu schwächen. Er war aber auch ein sehr wichtiger Schritt für die katholische Kirche in Polen. Sich mit einer Bitte um Vergebung an die Deutschen zu wenden, war angesichts der damaligen Stimmung in der polnischen Gesellschaft, die sich an die Jahre der Besatzung erinnerte und gleichzeitig von den polnischen Behörden ununterbrochen mit dem deutschen Revisionismus erschreckt wurde, ein radikales „Stromaufwärts“- Gehen. Viele Polen haben den Sinn des Hirtenbriefes nicht verstanden und waren geneigt, das Auftreten der polnischen Bischöfe als widersprüchlich zu den nationalen polnischen Interessen zu betrachten.
Dies wurde durch die staatlichen Behörden geschickt ausgenutzt, die eine breite Propagandakampagne planten, deren Ziele wie folgt waren: „Erstens, die im Hirtenbrief ausgedrückte Einstellung der Kirche als anti-national und anti-sozialistisch, den deutschen Revisionismus begünstigend, verurteilen. Zweitens, die Führung der Kirche als anti-national anprangern. Drittens, der Kirche die Verfälschung der Geschichte der polnischen Nation zuweisen. Viertens, eine Unterscheidung zwischen der Hierarchie und dem römisch-katholischen Klerus einführen“ (Verwaltungsabteilung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Polens, Dezember 1965).
Seit dem 10. Dezember 1965 führten die Massenmedien eine massive Attacke auf die polnische Bischofskonferenz durch. Dies war die größte Propagandakampagne gegen die Bischofskonferenz in der ganzen Geschichte der Volksrepublik Polen. Die Propaganda betonte, dass die polnischen Bischöfe im Namen der polnischen Nation den Deutschen die Vergebung unrechtmäßig erteilt hätten. An Arbeitstätten wurden Kundgebungen veranstaltet, die stets mit der Forderung endeten, die Autoren des Hirtenbriefes beispielhaft zu bestrafen. Diese Aktion hatte das Ziel, beim katholischen Teil der polnischen Gesellschaft und den Geistlichen das Vertrauen zur Bischofskonferenz zu untergraben. Der erste Sekretär, Władysław Gomułka, mahnte die Bischofskonferenz persönlich: „Die Kirche soll sich dem Staat nicht widersetzen. Sie soll nicht denken, dass sie die Seelen in der Nation regiert. Diese Zeiten sind für immer vorbei und sie werden nie zurückkommen“ (Ansprachen. Juli 1964 – Dezember 1966, Warschau 1967, S. 397-407).
Für den Hirtenbrief trat damals Jerzy Turowicz ein, der Redakteur von „Tygodnik Powszechny“, der feststellte, dass die Autoren dieses Briefes „vom edelsten Streben nach Brüderlichkeit zwischen den Nationen bewegt worden sind“ (14.01.1966).
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erleichterte dieser Hirtenbrief den Dialog zwischen Katholiken aus Polen und denjenigen aus der Bundesrepublik Deutschland sehr. Im Jahr 1968, drei Jahre nach dem Briefwechsel der beiden Bischofskonferenzen, unterschrieben 160 deutsche katholische Intellektuelle (darunter auch Joseph Ratzinger) das Bensberger Memorandum, in dem sie die deutsche Hierarchie aufforderten, sich für die Grenze an der Oder und Neiße auszusprechen. Nur dieses Memorandum wurde als eine angemessene Antwort auf den Hirtenbrief der polnischen Bischofskonferenz angesehen. Allmählich, besonders nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrages aus dem Jahr 1972, kam es in der katholischen Kirche Deutschlands zu einem gründlichen Wandel des Verhältnisses gegenüber Polen.
Ein konkretes Beispiel dafür war die wichtige materielle Hilfe der deutschen Mitbrüder für die polnische Kirche und für Polen in den siebziger und achtziger Jahren. Man darf auch nicht die vergessen, dass die Unterstützung der deutschen Kardinäle zur Wahl von Karol Wojtyła zum Papst beitrug. Dies waren sehr konkrete, historische Früchte des Hirtenbriefes.
Mit Dankbarkeit und Freude möchte ich hier auch an andere, direkte oder indirekte, Ergebnisse der Versöhnung, die durch den Hirtenbrief initiiert wurden, erinnern: die Besuche des polnischen Papstes in Deutschland und des deutschen Papstes in Polen (beide wurden sehr herzlich empfangen); häufige und freundliche Treffen von Bischöfen, Priestern und Gläubigen beider Länder; freundliche Treffen zwischen Kohl und Mazowiecki in Krzyżowa; zahlreiche polnisch-deutsche Ehen; die Feier der Eucharistie und die Spendung anderer Sakramente auf Deutsch in Polen und auf Polnisch in Deutschland; häufige Kontakte zwischen Jugendlichen, Schülern und Pfarreien (man erwartet, dass im nächsten Jahr viele deutsche Jugendliche nach Krakau kommen werden, um am Weltjugendtag teilzunehmen, so wie viele Polen beim Weltjugendtag 2005 in Köln teilgenommen haben).
Wenn ich heute für diese Früchte danke, so möchte ich schließlich auch den Aspekten des Hirtenbriefes Aufmerksamkeit schenken, die sich auf die Gegenwart und Zukunft unserer beiden Nationen beziehen.
Erstens: der Hirtenbrief weist auf die Notwendigkeit des Ethos hin, sowohl im Leben der nationalen wie auch der internationalen Gemeinschaft. Wenn wir den Weg der Versöhnung und Vergebung im Namen der barmherzigen Liebe finden wollen, müssen wir die Wahrheit beim Namen nennen. Man muss die Werte suchen, die uns gemeinsam sind und uns vereinen, nicht trennen. Wir haben in dieser Hinsicht besondere Fürsprecher, welche die Kirche in unseren Zeiten zur Ehre der Altäre erhoben hat. Diese Fürsprecher bemühten sich inständig um die brüderlichen Beziehungen zwischen der polnischen und der deutschen Nation. Es genügt hier den hl. Maximilian Kolbe, den hl. Johannes Paul II., die hl. Teresia Benedicta vom Kreuz, den sel. Bernard Lichtenberg und den sel. Anicet Kopliński zu nennen.
Zweitens: der Hirtenbrief weist auf den notwendigen Zusammenhang von Identität und Erinnerung hin. Dies ist gerade heutzutage besonders wichtig, wenn es um die polnische, deutsche, aber auch die europäischen Perspektive geht. Die Angst der Gläubigen im gegenwärtigen Europa vor dem Ansturm einer fremden Kultur und Religion ist berechtigt. Diese Angst scheint dadurch noch verstärkt zu werden, dass Europa von einem schweigenden Glaubensabfall betroffen ist. Anstelle der christlichen Werte machen sich manche Politiker für Ideologien stark, welche die christliche Vision des Menschen und der Familie zerstören. Deswegen ist es nötig, die Zusammenarbeit der polnischen und deutschen Gesellschaft zu fördern und zu vertiefen, besonders zwischen den Gläubigen beider Nationen, um so die christlichen Werte, die Europa geformt haben, und die heute durch innere und äußere Faktoren gefährdet sind, zu stärken. Als besonders wichtig zeigt sich die Verteidigung des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, die Sorge um die spirituelle Entwicklung der Jugend, die sich auf die christlichen Erziehung stützt, die Verteidigung und Förderung der christlichen Familie.
Drittens: der Hirtenbrief lehrt uns einen perspektivischen Blick, der besonders im gesellschaftlichen, politischen und religiösen Leben unentbehrlich ist. Obwohl wir gern sofort die Früchte unseres Bemühens sehen möchten, muss man sich oft mit Geduld und Ausdauer beim Streben nach dem Guten wappnen. Denn das gesellschaftliche Leben ist nicht durch einen einfachen Automatismus gekennzeichnet. Das Gewebe dieses Lebens formen Personen, die oft von Fehlern, Emotionen und eingeschränkter Erkenntnisfähigkeit geprägt sind. Deshalb ist der Weg, Verständigung und Gemeinschaft zu errichten, ein schwieriger Weg.
Viertens: im Namen des gleichen Geistes der Barmherzigkeit und der Verantwortung für die Zukunft, bitten wir unsere Schwestern und Brüder um die gemeinsame Fortsetzung des Werkes der Versöhnung, mit weiterer gegenseitiger Vergebung und im bedingungslosen Vertrauen auf die Wahrheit. Seit dem Verfassen des Hirtenbriefes hat sich viel in der Welt und in der Kirche geändert, auch in den Beziehungen zwischen der Kirche in Polen und in Deutschland. Die Polen freuen sich über die wiedererlangte Freiheit und die Deutschen über die Wiedervereinigung, die vor 50 Jahren nur in der Traumsphäre existierte. All dies, was damals unmöglich schien, zumindest kurzfristig, ist mittlerweile Realität geworden. In Rahmen des sich vereinigenden Europas wurden die Grenzen zwischen unseren Ländern geöffnet, was die Kontakte zwischen Polen und Deutschen auf verschiedenen Ebenen erleichtert und vertieft hat.
SCHLUSS
Die antiken Römer hatten die Redewendung: Historia est magistra vitae. Wir sind uns bewusst, dass wir immer noch viel lernen können, wenn wir Christus anschauen, die Geschichte unserer Nationen gründlich lesen und das spirituelle und materielle Gute der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen berücksichtigen. Singen wir also heute zu Gott das Te Deum als Ausdruck unserer Dankbarkeit. Danken wir für die Autoren und Unterzeichner des damaligen Hirtenbriefes, unter anderem: Primas Kardinal Stefan Wyszyński, Kardinal Bolesław Kominek und Erzbischof Karol Wojtyła. Bitten wir den Heiligen Geist um das Licht, dass wir dieses große Erbe, das in hohem Maße vom Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Brüder initiiert wurde, weiterentwickeln können.