Ansprache des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, bei der Festveranstaltung der Polnischen und der Deutschen Bischofskonferenz, aus Anlass des 50. Jahrestages des historischen Briefwechsels am 22. November 2015 in Tschenstochau (Polen)
Liebe Mitbrüder im bischöflichen Amt, sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich, dass wir heute hier in Tschenstochau zusammengekommen sind, um den 50. Jahrestag des Briefwechsels zu begehen. Unsere Vorgänger als Bischöfe in Polen und in Deutschland haben 1965, mitten im Kalten Krieg, ein starkes Zeichen der Versöhnungsbereitschaft gesetzt. So haben sie mitgeholfen, dass die Völker und auch unsere Staaten neue Wege des Miteinanders gefunden haben. Nur zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war dies eine historische Tat, nicht bloß das Ergebnis politischen Kalküls und Interessenausgleichs, sondern ? wie wir in der Erklärung sagen, die Erzbischof Gądecki und ich gleich unterzeichnen werden ? ein Akt des ?prophetischen Realismus?.
Der Briefwechsel war ein zutiefst christliches Zeichen. Denn im Glauben wissen wir, dass es mit Gott Möglichkeiten der Geschichte gibt, die derjenige nicht erkennen kann, der einer bloß menschlichen Rationalität verhaftet ist. Wie sollte es ohne Gottes Liebe ein neues Miteinander über die abgrundtief klaffenden Gräben der Schuld geben? Der christliche Glaube setzt nicht darauf, dass die Zeit alle Wunden heilt und irgendwann die Schuld verblasst ist. Das Kreuz ist das Zeichen dafür, dass Schuld in ihrer Tiefe ernst genommen wird ? und Gott selbst bis zum Äußersten gehen muss, damit die Schuld nicht zu dauernder Trennung führt. Und so haben unsere Vorgänger als Bischöfe in Polen und Deutschland nicht im Vertrauen auf sich selbst und ihre menschliche Macht, sondern im Vertrauen auf das Kreuz Christi den Akt der Vergebung gewagt. Die polnischen Bischöfe bauten auf die Vergebungsbereitschaft Gottes, als sie den deutschen Bischöfen schrieben, dass sie Vergebung gewähren und Vergebung erbitten.
Für die Deutschen war dies nach allem, was das polnische Volk während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg erleben musste, ein unverdientes Geschenk. Nicht wenige Beobachter meinen deshalb, der Antwortbrief der deutschen Bischöfe sei hinter der historischen Kraft des polnischen Schreibens zurückgeblieben; er sei zu reserviert, zu spröde ausgefallen. Ich kann solche Kritik durchaus nachvollziehen. Aber für den historischen Prozess, für das Fruchtbar-Werden des Briefwechsels waren Unebenheiten dieser Art nicht entscheidend. Ich bin mir gewiss: Wesentlich war, dass beide Seiten eingelöst haben, was sie mit ihrer historischen Geste versprochen hatten. Mit den Worten des deutschen Briefes: nicht zuzulassen, dass unsere Hände jemals wieder getrennt werden! Dieses Versprechen haben die Bischöfe aus unseren beiden Ländern und, mehr noch, dieses Versprechen hat die ganze Kirche in Polen und Deutschland eingehalten. In den schwierigen Zeiten bis 1990 ? und dann auch, als Polen und Deutsche sich unter freiheitlichen Bedingungen begegnen konnten.
In der Gemeinsamen Erklärung, die wir heute veröffentlichen, steht der Satz: ?Der gemeinsame Blick kann und darf sich heute auf die Fragen von Gegenwart und Zukunft richten, weil unsere Vorgänger vor dem Blick auf die belastende und trennende Vergangenheit nicht zurückgeschreckt sind.? Tatsächlich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir die geschichtliche Aufgabe verfehlen würden, wenn wir zwar die großartige Initiative der Bischöfe vor fünfzig Jahren feiern, aber zum heutigen Europa nichts beizutragen hätten.
Kein Zweifel: Europa ist in einer schwierigen Lage. Viele Fragen, viele Herausforderungen stehen vor der Europäischen Union und vor dem ganzen Kontinent. Ist die Europäische Union gerüstet, sich in einer sich dramatisch verändernden Welt zu behaupten und Beiträge für Frieden und Wohlergehen auch außerhalb der eigenen Grenzen zu erbringen? Wie gehen wir mit der Krise in der Ukraine um, mit der erzwungenen Abspaltung der Krim, mit der fortdauernden Gewalt im Süden und Osten dieses Landes ? eine Krise, die auf lange Frist jede gedeihliche Entwicklung zunichtezumachen droht und einen Herd der Instabilität mitten auf dem europäischen Kontinent geschaffen hat? Wie können wir dazu beitragen, dass die nur ruhig gestellten, aber nicht gelösten Konflikte auf dem Balkan nicht wieder blutig eskalieren und stattdessen eine Dynamik von Aussöhnung, Kooperation und Frieden in Gang kommt? Was fordert das Drama der Hunderttausenden von Flüchtlingen von uns, die sich vor allem aus dem Nahen Osten nach Europa aufgemacht haben, um Terror und Krieg in der Heimat zu entkommen? Was vermögen wir gerade auch für die Christen zu tun, die in der Region des Nahen und Mittleren Ostens unter die Räder der aktuellen Konflikte zu geraten drohen?
Seit einiger Zeit hat man den Eindruck, dass Tendenzen des Nationalismus, des Egoismus, der Selbstbezogenheit überall in Europa im Aufwind sind. Viele glauben, die Probleme des eigenen Landes ließen sich leichter lösen, wenn man sich auf sich selbst zurückzieht. Solidarität scheint zu einer immer knapperen Ressource zu werden. Ich bin überzeugt: Dies sind Irrwege. Politik unter dem Motto ?Jeder ist sich selbst der Nächste? führt dazu, dass am Ende alle verlieren. Die europäischen Völker können die großen Probleme unserer Zeit nur gemeinsam lösen.
Hier ist auch die Kirche gefordert. Wir dürfen nicht abseits der europäischen Debatte stehen, sondern können eine starke Rolle spielen. Wir müssen unsere Werte kraftvoll bezeugen und so dafür sorgen, dass das große geistige und moralische Erbe des Christentums weiterhin auf unserem Kontinent wirkmächtig bleibt. Und dazu gehört auch, überall in Europa die gemeinsame Stimme der Kirche hörbar zu machen.
Der Kirche in Polen und in Deutschland kommt dabei eine besondere Aufgabe zu. Wir haben die Erfahrung der Versöhnung machen dürfen, ein Geschenk, das wir nicht für uns behalten dürfen, sondern das wir weitergeben müssen. Deshalb haben sich unsere Bischofskonferenzen darauf verständigt, das Gespräch mit den Kirchen in jenen Teilen Europas zu intensivieren, die unter Friedlosigkeit und Unversöhntheit leiden. Wir denken dabei besonders an Bosnien und Herzegowina und andere Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens. Wir denken auch an die Situation auf dem Gebiet der untergegangenen Sowjetunion. Polnische und deutsche Bischöfe sind natürlich nicht in der Lage, politische Friedensinitiativen zu unternehmen. Aber wir können konkrete Projekte auf den Weg bringen, die die Kirchen in den Konfliktregionen Europas darin unterstützen, sich für Aussöhnung und gerechten Frieden einzusetzen.
Das ist die Aufgabe, zu der sich unsere Bischofskonferenzen 50 Jahre nach dem historischen Briefwechsel verpflichten. Dies soll ein Beitrag sein zu einem Europa, das immer mehr zu einem Raum des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit wird ? ein Europa, in dem die Würde eines jeden Menschen geachtet wird und das gerade so von seiner christlichen Prägung Zeugnis gibt, ein Europa, das sich nicht als Festung versteht, sondern als ?Beitrag für eine bessere Welt? (Jean Monnet)!