Liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
Liebe Schwestern und Brüder!
Indem wir Gott für das danken, was vor 50 Jahren in Form des Briefes der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe geschehen ist, denken wir als Christen über den theologischen Sinn dieser Geste nach.
- Erstens bekennen wir, dass die authentische Versöhnung von Gott kommt. Wenn der Mensch, vom Bösen getrieben und von seinem Stolz verführt, die Freiheit missbraucht, die ihm dazu gegeben ist, das Gute hochherzig zu lieben und zu suchen, und seinem Herrn und Vater den Gehorsam verweigert; wenn er, anstatt mit Liebe auf die Liebe Gottes zu antworten, sich ihm wie einem Rivalen widersetzt, wobei er sich selbst täuscht und seine Kräfte überschätzt. Dann gilt: Trotz dieser Treulosigkeit des Menschen bleibt Gott treu in seiner Liebe. Gott, „der voll Erbarmen ist“ wie der Vater im Gleichnis, verschließt sein Herz vor keinem seiner Kinder. Er wartet auf sie und sucht sie; er erreicht sie, er ruft sie, dass sie sich wieder um seinen Tisch versammeln und sich über das Fest der Vergebung und Versöhnung freuen.
Diese Initiative Gottes realisiert sich und zeigt sich im Erlösungsakt Christi, der in die Welt strahlt durch den Dienst der Kirche. Christus hat uns offenbart, dass Gott Liebe ist, und hat uns das „neue Gesetz“ der Liebe gegeben; dabei hat er uns die Gewissheit vermittelt, dass der Weg der Liebe auf alle Menschen zuführt, so dass die Bemühungen, eine weltweite Brüderlichkeit zu erreichen, nicht vergeblich sind. Indem er mit seinem Tod am Kreuz das Böse und die Macht der Sünde besiegt hat, hat er durch seinen von Liebe durchdrungenen Gehorsam allen das Heil gebracht und ist für alle „Versöhnung“ geworden. In ihm hat Gott den Menschen mit sich versöhnt.
Die Kirche spricht dabei im Namen Christi; sie übernimmt den Aufruf des Apostels Paulus: „Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20).
Wer diesem Aufruf folgt, tritt ein in das Werk der Versöhnung und erfährt an sich die Wahrheit, die in jenem anderen Aufruf des hl. Paulus enthalten ist, nach dem Christus „unser Friede ist. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder... Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib“.( vgl. Reconciliatio et poenitentia, 10).
- Zweitens, wer die unaufhörliche Liebe Gottes zum Menschen versteht, der bekennt seine Untreue gegenüber der Liebe Gottes. Derjenige bekennt seine Sünde und spricht „mea culpa“, was sich auf das liturgische Gebet Confiteor bezieht, das uns jeden Tag in die Feier der Liturgie einführt. Der Priester und die Laien bekennen alle in ihrem Ich – jeder einzeln und alle gemeinsam vor Gott und in Gegenwart der Brüder und Schwestern –, gesündigt zu haben, Schuld, ja sogar übergroße Schuld zu haben. Einerseits spricht man in der Ich-Form: „Ich“ habe gesündigt, und ich bekenne nicht Sünden der anderen, sondern ich bekenne mit meinem „Ich“. Aber gleichzeitig sind es alle Mitglieder, die mit ihrem „Ich“ sagen, „ich habe gesündigt“, das heißt, die gesamte lebendige Kirche, sagt in ihren lebenden Mitgliedern dies: „Ich habe gesündigt“. Und damit kommt in dieser Gemeinschaft des Bekennens ein Bild der Kirche zum Ausdruck: Jenes in der Konstitution Lumen gentium (8) angegebene: Die Kirche ist gleichzeitig heilig und bedarf, um heilig zu sein, der Reinigung, und sie geht den ständigen Weg der Reue. Dies ist stets ihr Weg, und so findet sie immer die stets notwendige Erneuerung. Dieses Bild der Kirche, das vom Zweiten Vatikanum formuliert wurde und täglich in der Liturgie realisiert wird, spiegelt seinerseits jene Gleichnisse des Evangeliums vom Unkraut und dem Weizen wider und das Gleichnis vom Fischnetz, das alle Arten von Fischen fängt, gute und schlechte. Die Kirche hat in ihrer Geschichte in diesen Gleichnissen stets ihre eigene Wirklichkeit vorgefunden. Das war so auch bei der Verteidigung gegen die Behauptung einer nur heiligen Kirche. Die Kirche des Herrn, der gekommen ist, um die Sünder zu suchen, und der absichtlich am Tisch mit Sündern zusammen gesessen hat, kann nicht eine Kirche außerhalb der Realität der Sünde sein, sondern es ist die Kirche, in der es Unkraut und Weizen gibt Fische aller Art. Deswegen bekenne „Ich“, aber „in Gemeinschaft mit den anderen“, und im Wissen um diese Gemeinschaft „bekennt man vor Gott“, aber man bittet die Brüder und Schwestern, für einen zu beten. Das heißt, man sucht in diesem gemeinsamen Bekennen vor Gott die gemeinsame Versöhnung.
Ein anderes Model des Bekennens sind die Bußpsalme, vor allem dort, wo Israel die Sünden seiner Geschichte bekennt, die Sünden der Väter, der ständigen Rebellion, vom Anfang der Geschichte bis heute. Es ist die Rede von den Sünden der Vergangenheit, von einer Geschichte der Sünde. Aber wenn Israel so betet, tut es das nicht, um die Väter zu verurteilen, sondern um in der Geschichte der Sünden die eigene Situation zu erkennen und sich auf die Bekehrung und die Verzeihung vorzubereiten. Die Christen haben stets mit Israel diese Psalmen gebetet und haben so dasselbe Bewusstsein erneuert. Das bedeutet, auch unsere Geschichte ist eine, wie sie die Psalmen beschreiben: eine Geschichte der Rebellion, der Sünden, der Mängel. Und auch wir bekennen dies, nicht um die anderen zu verurteilen, sondern um uns selbst zu erkennen und uns für die Reinigung des Gedächtnisses und zu unserer wirklichen Erneuerung zu öffnen. Man könnte viele Beispiele dieser Realität in der Geschichte der Kirche auflisten. Ich möchte hier nur eines zitieren: Maximus, der Bekenner, der im 7. Jahrhundert all diese Selbstanklagen des Alten Testaments auf die Christenheit anwendet: Von uns spricht Jeremias, von uns spricht Moses, von uns Micha. Und dann kommt er zum Evangelium, zu diesen starken Diskussionen des Herrn mit den Juden und sagt: „Wir sind schlimmer als diese Juden, die von Christus getadelt werden“ - und er fährt fort: „Können wir uns Christen nennen, wir, die wir nichts von Christus in uns haben? Anstatt ein Tempel Christi zu sein, sind wir ein Markt, eine Räuberhöhle“.
„Mea culpa“ bezieht sich auf die Sünden der Vergangenheit. Denn ohne die Sünden der Vergangenheit können wir die Situation von heute nicht verstehen. Die Kirche kann und darf nicht mit Arroganz in der Gegenwart leben, sich von den Sünden ausgenommen fühlen und als Quelle des Bösen die Sünden der anderen, der Vergangenheit, ausmachen. Das Bekennen der Sünde der anderen befreit nicht vom Anerkennen der Sünden der Gegenwart, es hilft, das eigene Gewissen zu wecken und den Weg zur Bekehrung für uns alle zu öffnen.
- Drittens, gemäß Augustinus, sind wir überzeugt, dass ein christliches Bekennen der Sünden, confessio peccati, immer mit einer confessio laudis Hand in Hand gehen muss. Bei einer aufrichtigen Gewissensprüfung sehen wir, dass wir unsererseits viel Böses in allen Generationen getan haben. Aber wir sehen auch, dass Gott trotz unserer Sünden die Kirche stets reinigt und erneut. Wer könnte verkennen, wie viel Gutes in den vergangenen 70 Jahren geschehen ist. Es wäre ein Mangel an Aufrichtigkeit, nur unser Böses zu sehen und nicht das Gute, das Gott durch die Gläubigen gewirkt hat. Die Kirchenväter fanden dieses Paradox von Schuld und Gnade zusammengefasst in den Worten der Braut des Hohenlieds: „Nigra sum sed formosa“ – „Ich bin durch die Sünden befleckt, doch schön“. Die Kirche kann offen und vertrauensvoll die Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart bekennen in dem Wissen, dass das Böse sie niemals zerstören wird, in dem Wissen, dass der Herr stärker ist“ (Ansprache von Joseph Kardinal Ratzinger zum Dokument „Erinnern und Versöhnen“). Wenn ich aus der Perspektive von 50 Jahren nach dem Briefwechsel spreche, muss ich erwähnen, dass die Polnische und die Deutsche Bischofskonferenz der Kirche und der Welt zwei Päpste gegeben haben: den Hl. Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Sie sind ein Vorbild der Freundschaft zwischen unseren Nationen, die auf die Taufe gebaut ist.
- Dies alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe von 1965 nachdenken. Als die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder den Brief mit dem berühmten „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“ schickten, haben sie in ihrer Weitsichtigkeit die Epoche überholt und im Namen der christlichen Liebe als erste die Hände zu den Deutschen ausgestreckt. Traurig ist, dass die deutschen Bischöfe diesen außerordentlichen Schritt zunächst nicht geschätzt haben. Ihre Antwort war „nicht ausreichend“ wegen der Angst vor der Reaktion der Vertriebenen – wie es der Unterzeichner der deutschen Antwort, Erzbischof Josef Stimpfle, gestand.
Einer der Personen, die schon damals nicht mit der ängstlichen Reaktion der deutschen Bischöfe übereinstimmte, war der damalige Priester und Professor Joseph Ratzinger. Das Bensberger Memorandum, das im Jahr 1968 veröffentlicht wurde, war eine angemessene Antwort auf den polnischen Brief. Ihre Unterzeichner – 160 katholische Intellektuelle, Laien und Priester – haben deutlich die deutsche Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze im Namen der Versöhnung mit Polen und der Vereinigung Europas gefordert. Das Original des Memorandums ist heute im Museum der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ausgestellt. Die Inschrift an der Vitrine richtet die Aufmerksamkeit auf die Unterschrift von Joseph Ratzinger auf diesem Dokument. Er selbst hat in einem Brief an ein Mitglied der Bensberger Gruppe deutlich hervorgehoben, dass er „wegen dieser Initiative, auf die er so lange gewartet hatte, glücklich ist“.
- Dank sei Gott für unser heutiges Treffen auf Jasna Góra. Genau zu diesem Ort lud die Polnische Bischofskonferenz Papst Paul VI. und die Bischöfe aus der ganzen Welt, darunter die Bischöfe aus Deutschland, ein, um das 1000. Jubiläum der Taufe Polens, am 3. Mai 1966, gemeinsam zu feiern. Die damaligen kommunistischen Behörden erlaubten den Besuch des Papstes in Polen nicht. Auch die deutschen Bischöfe konnten nicht nach Jasna Góra kommen. Es gab aber eine geistige Verbindung und in dieser Atmosphäre wurden Worte ausgesprochen, die nicht weniger wichtig waren als diejenigen des Briefwechsels. Während des „Appells von Jasna Góra“ vom 3. Mai 1966 sagte der damalige Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński: „Und wir beten – Vater unser, der Du bist im Himmel: ‚Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern’“ (Stefan Kardinal Wyszyński, Na szlaku tysiąclecia. Wybór kazań, Warschau 1996, S. 69). Heute werden wir Seite an Seite stehen, die deutschen und die polnischen Bischöfe, um zu sagen, dass wir versöhnt sind! Versöhnt in Christus und untereinander.
- Zum Schluss, mit Blick auf die Zukunft möchte ich noch einmal die Worte von Stefan Kardinal Wyszyński von dem erwähnten „Appell von Jasna Góra“ erinnern: „Der Hass führt zu den Friedhöfen, die Liebe führt zum neuen Leben.“ Deshalb gibt es auch in unserer Zeit keinen Raum für Hass aufgrund von Herkunft, Rasse oder Religion gegenüber Personen, die seit Jahren auf unserem Kontinent leben oder in den vergangenen Monaten aus dem Nahen Osten gekommen sind. Als Christen sind wir dazu berufen, ein Zeugnis der Liebe zu geben, und somit das Haus unserer Heimat auf einem soliden Felsen zu bauen (vgl. Mt 7, 24-27).
Bitten wir also die Gottesmutter, unsere geistige Mutter, dass sie der Kirche in Polen und in Deutschland hilft, diesen Weg treu zu gehen.