Stellungnahme des Ständigen Rats der Bischofskonferenz hinsichtlich der Handlungen Johannes Pauls II. in Bezug auf sexuelle Verletzungen gegenüber Minderjährigen
In der Öffentlichkeit hören wir immer mehr Fragen zur Haltung von Johannes Paul II. angesichts des Dramas des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen durch Geistliche sowie der Reaktionsweise auf diese Art von Verbrechen während seines Pontifikats. Immer lauter wird die These, dass der Papst an solche Taten nicht richtig herangegangen sei und wenig zur Lösung dieses Problems beigetragen oder es sogar verschwiegen habe. Es scheint eine Art Mode zu geben, solche Meinungen zu formulieren. Dies entspricht den Versuchen, die Autorität von Johannes Paul II. zu untergraben und sogar seine Heiligkeit in Frage zu stellen, die im Prozess der Selig- und Heiligsprechung bestätigt wurde. Folglich bildet dies einen Versuch, die Bedeutung dieses außergewöhnlichen Pontifikats für die Kirche, die Welt, die Kultur und den Menschen zu schmälern.
Der Medienangriff auf Johannes Paul II. und sein Pontifikat findet seine Ursache auch in der Haltung zu seiner Lehre, die beispielsweise in solchen Enzykliken wie „Redemptor hominis“ oder „Veritatisspendor“ zum Ausdruck kommt, sowie in der von ihm gepredigten Theologie des Leibes, die nicht den zeitgenössischen Ideologien entspricht, die den Hedonismus, Relativismus und moralischen Nihilismus fördern.
In dieser Situation gerecht nach der Wahrheit zu suchen und sie zu bezeugen, ist die Pflicht jedes rechtschaffenen Gewissens. Ein Blick auf das Wirken von Johannes Paul II. sollte den historischen Kontext und den damaligen Wissensstand sowie die Gegebenheiten, unter denen er lebte, berücksichtigen. Sie waren von den Folgen der Kulturrevolution von 1968 geprägt, die die objektiven Kriterien von Moral und Eigenverantwortung ablehnte. Vor allem in den akademischen Kreisen des Westens wurde weithin proklamiert, dass alles den gleichen Wert habe und dass es folglich keinen Unterschied mehr gebe zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Falschheit, Schönheit und Hässlichkeit. Jetzt entstehen neue Ideologien, die das Erbe der Revolution von 1968 sind. Sie untergraben die christliche Anthropologie, deren grundlegende Wahrheit Gottes Erschaffung des Menschen als Mann und Frau nach seinem Bild und Gleichnis ist. Der Kampf gegen das christliche Menschenbild ist offensichtlich mit Versuchen verbunden, die große Autorität von Johannes Paul II. in aller Welt zu unterminieren, der diese Vision mit großer Macht Dialogs unserer Zeit verkündet hat.
Um die Herangehensweise von Johannes Paul II. an das Problem des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu verstehen, möchten wir sein konsequentes Handeln aufzeigen.
1. Bereits zu Beginn des Pontifikats wurden Kirchenobere in dem von Johannes Paul II. 1983 eingeführten neuen „Kodex des kanonischen Rechts“ ausdrücklich verpflichtet, Mitglieder des Klerus, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger begangen haben, mit einer gerechten Strafe zu belegen – einschließlich der Ausweisung aus dem geistlichen Stand.
1992 verkündete Johannes Paul II. den „Katechismus der Katholischen Kirche“, der in Artikel 2389 feststellt, dass „sexuelle Missbräuche Erwachsener von Kindern oder Jugendlichen, die ihrer Obhut anvertraut sind“, eine Sünde sind. „Dann kommt zu der Verfehlung ein skandalöser Verstoß gegen die leibliche und moralische Unversehrtheit der jungen Menschen hinzu, die dadurch für ihr ganzes Leben gezeichnet bleiben. Hier ist zudem eine krasse Verletzung der Erziehungsverantwortung gegeben.“
2. Vermutlich erreichte das erste ernsthafte Signal über Sexualverbrechen, die von Geistlichen zum Schaden Minderjähriger begangen wurden, Johannes Paul II. von der Kirche in den Vereinigten Staaten im Jahr 1985 über den Apostolischen Nuntius in Washington. Es war eine Analyse der Wirkungslosigkeit des Vorgehens der Kirche in den USA gegenüber der Täter der oben genannten Verbrechen. Über das wahre Ausmaß dieses Phänomens hat man damals jedoch kein vollständiges Bild gehabt.
3. Während des Ad-limina-Besuchs der US-Bischofskonferenz im Jahr 1993 stellte Johannes Paul II. fest, dass die Bischöfe nicht einig seien, das Strafrecht auf die von Geistlichen begangene Sexualdelikte anzuwenden. Es herrschte die Tendenz, die Bedeutung des Strafrechts im Leben der Kirchengemeinde zu minimieren, und bestehende Rechtsinstrumente wurden oft nicht angewendet. Es wurde auch nicht erkannt, wie tiefgreifend und schädlich die Folgen dieser Verbrechen für die Psyche der Opfer sein können. Gleichzeitig erstarkten weltweit Bewegungen, die die Legalisierung von Pädophilie forderten.
Nach diesem Besuch schrieb Johannes Paul II. in einem Brief an die amerikanischen Bischöfe: „Die kanonischen Strafen, die für bestimmte Verbrechen vorgesehen sind und die gesellschaftliche Missbilligung des Bösen zum Ausdruck bringen, sind völlig gerechtfertigt. Sie helfen, eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch zu wahren, tragen zu moralischem Verhalten bei und schaffen auch ein angemessenes Bewusstsein für die Schwere des begangenen Unrechts.“
Im zweiten Teil dieses Briefes warnte Johannes Paul II. davor, moralisches Übel als Anlass für Sensationsgier zu betrachten. „Das Böse mag in der Tat sensationell sein, aber die damit verbundene Sensationsgier ist immer gefährlich für die Moral“, schrieb er. Es ist möglich, dass diese Denkweise des Papstes eine gewisse Folge seiner schmerzhaften polnischen Erfahrungen war, als die Massenmedien unter der kommunistischen Herrschaft gewissermaßen offiziell kirchenfeindlich und die darin enthaltenen Informationen oft nur Lügen und Verleumdungen waren. Die misstrauische und ungläubige Haltung gegenüber den aufkommenden Vorwürfen gegen Geistliche war daher weitgehend gerechtfertigt, zumal sie im kommunistischen System oft ein Mittel zur Diskreditierung der Stellung und Wirkung der Kirche sowie eine Gelegenheit zur Rekrutierung von Mitarbeitern aus dem Klerus waren.
4. Es scheint, dass sich in der Zeit von der Mitte der Achtziger- bis Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts der Skandal des sexuellen Missbrauchs für Johannes Paul II. hauptsächlich als ein Problem der Kirche in den Vereinigten Staaten und in angelsächsischen Ländern abzeichnete. Deshalb erließ er 1994 ein Indult für die Kirche in den USA, dessen Zweck darin bestand, durch Angleichung kirchlicher Vorschriften an amerikanisches Recht für mehr Schutz von Kindern und Jugendlichen zu sorgen. Dieses Dokument erhöhte das Schutzalter für Minderjährige von 16 auf 18 Jahre und verlängerte die Verjährungsfrist für Straftaten des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger auf 10 Jahre ab dem 18. Lebensjahr des Geschädigten. Zwei Jahre später, 1996, erließ der Papst ein ähnliches Indult an die Kirche in Irland, aus der auch Berichte über Sexualdelikte durch Geistliche zu fließen begannen.
Das Bewusstsein des Papstes für das Ausmaß und die Auswirkungen dieser Verbrechen ist daher im Laufe der Jahre gewachsen. Ihm wurde immer deutlicher, dass Bischöfe und Ordensobere keine angemessenen und rechtlichen Schritte einleiteten und ihrem Auftrag nicht nachkamen.
5. Daher hat Johannes Paul II. trotz der nachkonziliaren Dezentralisierungstendenzen im Jahr 2001 das Dokument „Sacramentorumsanctitatistutela“ für die gesamte Kirche herausgegeben. Das Kind wurde als einer der größten Schätze dargestellt, den es um jeden Preis zu schützen gilt. Die Schädigung eines Kindes im sexuellen Bereich galt als eines der schwersten kirchlichen Verbrechen und wurde mit der Entweihung des Allerheiligsten Sakramentes oder der Verletzung des Beichtgeheimnisses gleichgesetzt. Um eine Verharmlosung dieser Verbrechen innerhalb der Ortskirchen zu vermeiden, begründete der Papst gemäß dieses Dokuments die Zuständigkeit des Heiligen Stuhls für alle Fälle von sexuellem Missbrauch Minderjähriger ab dem Zeitpunkt, an dem das Verbrechen vorgetragen wurde, und ordnete eine Meldung an die Kongregation für die Glaubenslehre an. Seitdem sind die Strafverfahren in diesen Fällen dem Heiligen Stuhl vorbehalten und stehen bis heute unter seiner strengen Kontrolle. Diese Entscheidung zeigte, dass Johannes Paul II. das Ausmaß und den globalen Charakter der durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen verursachten Krise erkannte. Diese Änderung in der Anwendung und Durchsetzung des Gesetzes war wirklich beispiellos. Rückblickend lässt sich feststellen, dass es sich als Wendepunkt im Kampf der Kirche gegen Sexualverbrechen in den eigenen Reihen herausgestellt hat. Nach diesen Entscheidungen von Johannes Paul II. verpflichtete der Heilige Stuhl alle Bischofskonferenzen, in solchen Fällen detaillierten Verhaltensnormen einzuführen und dabei das weltliche Recht zu respektieren.
6. Eine Manifestation des wachsenden Bewusstseins des Papstes war seine Ansprache an die amerikanischen Kardinäle im April 2002 bei einem Treffen, das eine direkte Folge der Welle der Offenlegung von Verbrechen gegen Kinder und Minderjährige durch Geistliche war, die durch eine Reihe von veröffentlichten Artikeln im „Boston Globe“ provoziert wurde. Bei der Diagnose der Krise wies Johannes Paul II. auf den Schmerz der Menschen hin, die durch Verbrechen verletzt wurden. Er versicherte den Missbrauchsopfern und ihren Familien „seiner tiefen Solidarität und Sorge“. Er betonte, dass die Bewältigung dieser schmerzhaften Folgen die Kirche verändern und heiliger machen müsse. Er betonte auch, dass jeder, der jungen Menschen schadet, diese Heiligkeit verleugnet und dass „im Priestertum und im Ordensleben kein Platz für diejenigen ist, die Minderjährigen schaden würden“. Er erkannte auch als wesentlichen Teil des Problems an, dass „viele sich verletzt fühlen durch die Art und Weise, wie die Kirchenführer an diese Verbrechen herangegangen sind“, und ihre „Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen haben“. Die vom Papst gegebene Diagnose der Krise ist daher eindeutig, und die Richtung der Maßnahmen, die die Situation heilen sollen, ebenso.
7. Aus den dargestellten Maßnahmen von Johannes Paul II. angesichts der immer deutlicher werdenden Krise ergibt sich das Bild eines Hirten, der sich ihr mutig und entschlossen stellen wollte und sich gleichzeitig bewusst war, dass diese Krise die Fähigkeit der Kirche bedrohen könnte, ihre Mission in der Welt ordnungsgemäß zu erfüllen. Der Papst kam zu dem Schluss, dass nur „die Kirche, die das Problem des Missbrauchs mit Klarheit und Entschlossenheit angeht“, auch der Gesellschaft helfen kann, der Geißel der Sexualverbrechen gegen Minderjährige und Schwache zu widerstehen. Als er bemerkte, dass punktuelle Antworten keine ausreichende Lösung für dieses Problem sind, unternahm der Papst 2001 einen entscheidenden Schritt und änderte das Gesetz, das zu einem Werkzeug für die gesamte Kirche wurde. Mit dieser Änderung leitete er den Prozess der Reinigung der Kirche ein, der von seinen Nachfolgern fortgesetzt wurde: den Päpsten Benedikt XVI. und Franziskus.
Um die damalige Situation heute zu verstehen, muss man auch die damals in der Kirche vorherrschende Diskretionsmentalität berücksichtigen. Selbst wenn einige Maßnahmen ergriffen wurden, gab es zugleich auch Angst und Widerstand gegen ihre transparente Kommunikation.
Die Berichtlektüre des Heiligen Stuhls über den ehemaligen Kardinal Theodor McCarrick stellt Fragen, inwieweit Johannes Paul II. zuverlässig durch die zuständigen Behörden informiert wurde und inwieweit bestimmte Entscheidungen ohne sein Wissen auf anderen Machtebenen entsprechend der Kompetenz getroffen wurden. Jedenfalls zeigt der Bericht über McCarrick keinerlei „Vertuschung“ oder „Unter-den-Teppich-Kehren“ von Sexualverbrechen Geistlicher durch Johannes Paul II.
Ein Versuch, die Haltung und das Handeln des Heiligen Johannes Paul II. zu verstehen, kann eine Gelegenheit für uns sein, zu erkennen, dass Gottes Handeln durch gewöhnliche Menschen erfolgt – in historischem Kontext und durch die persönliche Geschichte bedingt. Es ist für uns auch ein Weg zu einem tieferen Verständnis der Heiligkeit, die in der heroischen Erfahrung von Glaube, Hoffnung und Liebe liegt. Der Papst umgab mit großer Empfindsamkeit Menschen, die sein Leben und seine Lehre belegen. Die Verkündigung der Heiligkeit des Menschen durch die Kirche ist keine Behauptung über seine Sündenlosigkeit, geschweige denn seine Fehlerfreiheit, sondern eine Anerkennung des Zeugnisses seiner Bindung zu Christus trotz und zum Trotz menschlicher Beschränkungen und Konditionierung.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Johannes Paul II. ein Papst war, der entsprechend erworbener Kenntnisse einen entschiedenen Kampf gegen Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Minderjährigen durch einige Geistliche führte sowie Normen zur Rechenschaft dieser Art von Verbrechen in die ganze Kirche einführte, indem er betonte, „es gibt im Priestertum und Ordensleben keinen Platz für diejenigen, die junge Menschen verletzen“. Er hat den Reinigungsprozess der Kirche in diesem Bereich begonnen, der äußerst wichtig ist und bis heute andauert.
Jasna Góra, 14. November 2022
Translation: J. Łukaszuk-Ritter/ Büro für Auslandskommunikation der Polnischen Bischofskonferenz